Im Frühjahr 2038
Mein Zeitz in 17 Jahren. Eine Vision
Eines sonnigen Mittags im Mai 2038 sitze ich, inzwischen 84-jährig, auf meiner Terrasse und lese einigermaßen vergnügt Zeitung. Die Beine verneinen inzwischen aktive Stadtrundgänge wie einst. Dennoch, Grund der guten Laune: die große deutsche Tageszeitung schreibt, dass der Einwohnerschwund in der einst bedrohlich schrumpfenden Stadt gestoppt sei. Der Zuzug überstieg schon seit längerem die Zahl derer, die wegziehen. Nun würden übers Jahr sogar mehr Menschen geboren als sterben. Ein gutes Zeichen. Es wird berichtet, viele der zu Beginn der Zwanziger täglich um die 5.000 zur Arbeit nach Zeitz Einpendelnden hätten inzwischen hier auch ihren Wohnsitz genommen, vor allem junge Leute. Nach den Gründen befragt, hätten sie nach Arbeitsplatz und Wohnumfeld zuerst die modernen Schulen und Betreuungseinrichtungen genannt. „Miete noch erschwinglich, was du brauchst alles nahebei, viel Kultur und gleich um die Ecke geht´s raus in eine zauberhafte Landschaft,“ sei eine der häufigsten Antworten gewesen.
Die Zeitung, einst in der heute wieder aufstrebenden Stadt wegen ihrer Geisterstadtgeschichten ungeliebt, will die Gründe der erfreulichen Entwicklung ausgemacht haben. Damals Anfang der Zwanziger Jahre, schreibt sie, hätten die Stadtväter und Protagonisten des sogenannten Strukturwandels nach anfänglichen Irritationen wohl doch einiges richtig gemacht. Der Staat stellte für den Strukturwandel viel Geld bereit. „Offenbar haben das die Macher hier gut angelegt,“ schreibt das Blatt und führt einige Entwicklungen näher aus.
Anfangs hätte man in der Stadt, um schnellen Fortschritt für die Menschen sichtbar zu machen, mal hier, mal dort ein Haus „aufgemotzt“ und schon temporär geförderte Projekte als Erfolge gefeiert. Dann hätte man sich aber entschlossen, größer zu denken. Und langfristiger. Ein ganzes Quartier sei überplant worden und dessen Teilsegmenten habe man klare Funktionen und Ziele zugewiesen. Heute könne man das gut sehen. Der Redakteur sei überrascht gewesen, hätte den Bahnhof selbst und den Weg hinauf in die Stadt kaum wieder erkannt. Sogar geforscht werde hier. In einer ehemaligen Industrieruine klügele man unter anderem an der Nutzung nachwachsender Rohstoffe. Die Ideenschmiede tüftele Verfahren aus, die im nahegelegen Industriepark für grüne Chemie Anwendung finden. Seitdem hätten sich drei zwar kleinere, aber moderne innovative Unternehmen zu den Betrieben im grünen Chemiepark gesellt.
Einen ähnlichen Trend stellt die Zeitung auf dem wenige Kilometer entfernten, noch auf Stadtgebiet liegenden Gewerbegebiet fest. Erst vor zwei Jahren fertig erschlossen entstehe hier eine zweite Produktionsstätte (wofür und mit wie vielen Arbeitsplätzen hatte der Reporter wohl vergessen zu fragen).
Eine rasante Entwicklung macht das Blatt zuletzt in der ehemaligen Zeitzer Nudelfabrik aus. Das riesige Areal aus rotem Klinker sei inzwischen „eine Art Katalysator für Startups aus der Kreativ- und Kulturwirtschaft. Gamer, Virtual Reality Freaks und DesignerInnen aller Couleur starten hier ihre ersten Unternehmungen,“ heißt es im Beitrag. 2021 bereitete man hier noch die alten Fenster auf, heute könne man sich vor Anfragen kaum retten. Zu der Zeit noch wegen des seltsam fremden Vokabulars bewitzelt zeige sich heute, es war nicht falsch, auch auf Co Working Spaces und Kreativlabore zu setzen. Jeder Skepsis zum Trotz einer prosperierenden Branche Freiraum zu bieten, habe sich langfristig ausgezahlt. Mitgeholfen habe dabei unter anderem die ausgefeilte flächendeckend bereitstehende digitale Infrastruktur. Ein Baustein einer Strategie, deren Titel Smart City anfangs Skepsis ausgelöst, jedoch das städtische Leben entscheidend beeinflusst habe, schätzt das Blatt ein.
Gegenüber der Nudel, auf der anderen Elsterseite, brüten andere Expertenteams fieberhaft an Lösungen künftigen Zusammenlebens in Städten. Der inzwischen vollends ausgetrocknete Mondsee stehe als Warnung, schreibt die Zeitung. Auch in den Städten werde Wasser knapp. In einem Gebäude der ehemaligen ZEKIWA würden die Forscher in Sachen Fortbewegung und Klimaneutralität in Städten an neuen Formen zukünftiger Stadträume arbeiten. Draußen an der Weißen Elster hätte der Reporter seinen Augen nicht getraut. Denn hier habe er am flachen Wasser der Weißen Elster scharenweise Menschen in volksfestähnlicher Stimmung beim Picknick auf den Wiesen beobachtet.
Als eine Art Schlussplädoyer schreibt die Zeitung: „Wer vor 18 Jahren, die Zeit als ein Corona-Virus wütete, die wie leergefegten Straßen sah, der war geneigt von Geisterstadt zu schreiben. Dieses Bild hat sich gewandelt. Noch ist der einst dramatische Leerstand nicht gänzlich überwunden, doch diese Stadt atmet Leben. Noch sind die mit dem Braunkohleausstieg weggefallenen Arbeitsplätze nicht 1:1 durch Industriearbeitsplätze ersetzt, aber andere, neue Beschäftigung konnte den Schrumpfungstrend brechen. Zeitz wächst, langsam aber die Stadt wächst.“
Mir fällt ein Satz ein, den im April 2016 Bernd Dicke von der FH Dortmund über Zeitz sagte: „Das Beste kommt noch!“. 22 Jahre später sollte er recht behalten. Meine Güte, ist das wirklich so lange her? Übrigens, aufgeschrieben hatte ich das damals im kleinen Stadtmagazin zeitzonline.de. Erinnern Sie sich noch? Was waren das für Zeiten!
Ich muss aufhören, mein Enkel rief eben an. Er kommt heute zum Kaffee. Aus Leipzig. Mit der S-Bahn. 45 Minuten von Haustür zu Haustür. Denn inzwischen haut das mit dem ÖPNV auch in Kleinstädten hin. Jedenfalls in Zeitz.
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